Neue Entscheidung zu Kettenbefristungen

Am 22. Oktober 2012, von Michael Eckert

BAG, Urteil vom 18. Juli 2012, 7 AZR 443/09

Über den diesem Urteil zugrundeliegenden Fall hatte ich bereits im letzten „Blick ins Arbeitsrecht“ unter Ziffer 10 berichtet. Anlass war die auf Vorlage des Bundesarbeitsgerichts ergangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 26. Januar 2012. Dieser hatte entschieden, dass auch aufeinanderfolgende befristete Verträge, sogenannten Kettenbefristungen, dann zulässig sind, wenn ein Sachgrund für die Befristung vorliegt. Der bloße Umstand, dass ein wiederkehrender oder sogar ständiger Bedarf an Vertretungen durch hintereinandergeschaltete befristete Arbeitsverhältnisses mit der immer gleichen Person (anstelle der Einstellung einer dauerhaften Personalreserve) abgedeckt würde, führe, so der EuGH nicht zur Unwirksamkeit der einzelnen Befristungen. Der Arbeitgeber kann somit in der Regel nicht gezwungen werden, mit festen unbefristeten Verträgen eine Personalreserve vorzuhalten.

Diese Entscheidung des EuGH war nunmehr die Grundlage für das Urteil des BAG in der gleichen Sache, das die Rechtsfrage der Kettenbefristungen zur Vorentscheidung dem EuGH vorgelegt hatte. Das pikante am vorliegenden Sachverhalt war die Tatsache, dass es um eine Arbeitnehmerin ging, die mit insgesamt 13 befristeten aufeinanderfolgenden Verträgen für insgesamt 11 ½ Jahre immer als Vertretung für verschiedene Arbeitnehmer am Amtsgericht in Köln angestellt war und die eine Festanstellung anstrebt.

Das BAG hat keine abschließende eigene Entscheidung getroffen, sondern den Fall vielmehr an das Landesarbeitsgericht Köln zurückverwiesen. Dort müssen jetzt noch weitere tatsächliche Feststellungen zum Sachverhalt getroffen werden.

Allerdings hat das BAG in dieser für befristete Arbeitsverhältnisse wegweisenden Entscheidung auf wichtige „Leitplanken“ hingewiesen, die auch allgemein für den Abschluss von befristeten Verträgen die zukünftige Entscheidungslinie des BAG erkennen lassen.

Praxistipp:

Für die Praxis ergeben sich damit folgende wichtige Hinweise:

  • Zunächst muss jede Befristung durch einen Sachgrund gem. § 14 Abs. 1 S. 1 TzBfG (Teilzeit- und Befristungsgesetz) begründet sein. Diese Sachgründe werden von den Gerichten traditionell sehr sorgfältig geprüft, darlegungs- und beweisbelastet für solche Sachgründe ist der Arbeitgeber.
  • Nach der grundlegenden Entscheidung des BAG können auch verschiedene befristete Verträge mit unterschiedlichen Sachgründen hintereinander geschaltet werden mit der Folge, dass eine durchgehende Beschäftigung stattfindet, allerdings aufgrund unterschiedlicher Verträge und mit unterschiedlichen Befristungsgründen. So kann ein Arbeitnehmer beispielsweise zunächst als Urlaubsvertretung für den einen Mitarbeiter, anschließend  unmittelbar im Anschluss vielleicht als Krankheitsvertretung für wieder einen anderen Mitarbeiter usw. beschäftigt werden.
  • Auch ein beim selben Arbeitgeber vorhandener ständiger Vertretungsbedarf, schließt den Abschluss solcher „Vertretungsverträge“ und damit auch Kettenbefristungen nicht aus. Generell gilt: Je mehr Arbeitnehmer bei einem Arbeitgeber beschäftigt sind, desto eher lässt sich der Vertretungsbedarf anhand bekannter Vertretungsnotwendigkeiten für Urlaub, Krankheit, Lehrgänge, Schwangerschaft, Elternzeit etc. bestimmten oder zumindest grob kalkulieren. Trotzdem ist ein Arbeitgeber nach der Entscheidung des EuGH, dem sich das BAG angeschlossen hat, nicht verpflichtet, eine ständige Personalreserve aufgrund unbefristeter Verträge (sogenannte Springer) vorzuhalten.
  • Als Zwischenergebnis lässt sich also festhalten, dass sich an der bisherigen Rechtsprechung des BAG und auch der Instanzgerichte zu Kettenbefristungen im Grunde nichts geändert hat, solang die Zahl der befristeten nacheinander geschalteten Arbeitsverträge und der sich daraus ergebenden Gesamtbefristung „in Grenzen hält“.
  • Neu ist allerdings eine vom BAG nun für notwendig gehaltene „Missbrauchsprüfung“ bei Kettenbefristung:
    Danach kann unter besonderen Umständen die Befristung eines Arbeitsvertrages trotz Vorliegens eines sachlichen Grundes wegen rechtsmissbräuchlicher Ausnutzung der an sich eröffneten rechtlichen Gestaltungsmöglichkeit unwirksam sein. Die Frage, wo rechtlich zulässige Kettenbefristung endet und wo ein Rechtsmissbrauch beginnt, soll anhand der Grundsätze von Treu und Glauben (§ 242 BGB) entschieden werden.  Wichtig ist, dass nach Aussage des BAG an einen nur ausnahmsweise (!) anzunehmenden Rechtsmissbrauch hohe Anforderungen zu stellen sind. Dabei sollen alle Umstände des Einzelfalles, insbesondere aber die Gesamtdauer und Anzahl der in der Vergangenheit mit demselben Arbeitgeber geschlossenen aufeinanderfolgenden befristeten Verträge berücksichtigt werden.
    Das BAG hat davon abgesehen, diese sehr unklaren Grenzlinien näher zu bestimmen. Allerdings hat der Senat erkennen lassen, dass eine Gesamtdauer von elf Jahren und die Anzahl von 13 Befristungen im vorliegenden Fall für einen Rechtsmissbrauch sprechen. Der Klage konnte jedoch trotzdem nicht stattgegeben werden, da die vorliegend erörterten neuen „Missbrauchsüberlegungen“ bisher noch nicht Gegenstand des Verfahrens waren. Dem Arbeitgeber, dem beklagten Land Nordrhein-Westfalen, muss daher zunächst in einem erneuten Verfahren beim Landesarbeitsgericht Gelegenheit gegeben werden, weiter vorzutragen, um den Missbrauchsvorwurf gegebenenfalls zu entkräften.

Anmerkung:

Das genannte Urteil geht derzeit als „neue Rechtsprechung zu befristeten Arbeitsverträgen“ durch die Presse. Die Rede ist davon, der Willkür des Arbeitgebers würden nunmehr Grenzen gesetzt werden. Der Europäische Gerichtshof habe mit der bisherigen Rechtsprechung zu Kettenbefristungen gebrochen, Kettenbefristungen seien, so ist teilweise zu lesen, generell wegen Missbrauchs nicht mehr zulässig.

All diese Deutungen sind ersichtlich falsch. Im Gegenteil: Der Europäische Gerichtshof hat die bisherige Rechtsprechung des BAG ausdrücklich bestätigt und insoweit ausdrücklich ausgesprochen, dass auch Kettenbefristungen zulässig sind, soweit die einzelnen Befristungen durch Sachgrund gerechtfertigt sind.

Vereinzelte Stimmen in der arbeitsrechtlichen Literatur, die solche Kettenbefristungen generell für unzulässig hielten, können daher auch weiterhin von der Rechtsprechung ignoriert werden.

Aber auch die als neu angekündigte Missbrauchskontrolle ist letztlich nichts wirklich Neues. Die Tatsache, dass Gerichte generell prüfen, ob gesetzliche Vorschriften rechtmissbräuchlich ausgenutzt werden, ist bekannt. Dies gilt gerade im Arbeitsrecht mit einem vom Gesetzgeber gewollten sehr starken Arbeitnehmerschutz.

Im besonderen Maße hat die Rechtsprechung bereits bisher befristete Arbeitsverträge überprüft, da diese eine Abweichung vom Grundsatz des unbefristeten Vertrages und der Beendigungskontrolle über den gesetzlichen Kündigungsschutz entgegenstehen.

Je länger Kettenbefristungen andauerten, desto genauer erfolgte auch bisher bereits eine solche Missbrauchskontrolle.

Leider findet sich zumindest in den bisher bekannt gewordenen Informationen zu dem Urteil noch keine klare und von der Instanzgerichtsbarkeit in Zukunft anzuwendende Regelung, wann von einem Missbrauch auszugehen ist. Eine schriftliche Begründung des Urteils liegt noch nicht vor.

Eine klare abstrakte Vorgabe, wann von einem Missbrauch auszugehen ist, wäre aber umso wichtiger, wenn das BAG der Auffassung ist, dass auch formal wirksame Befristungen, bei denen unzweifelhaft vom Arbeitgeber ein wirksamer Befristungsgrund nachgewiesen werden konnte, allein aufgrund einer Vorbeschäftigung des Arbeitnehmers rechtsmissbräuchlich sein könnte.

Soweit bisher erkennbar ist, soll lediglich eine Überprüfung anhand der Gesamtbeschäftigungsdauer und der Zahl der befristeten Arbeitsverträge, die nacheinander abgeschlossen wurden, erfolgen. Wesentliche Bedeutung dürfte dabei nicht die Zahl der Verträge, sondern die Dauer der Gesamtbeschäftigung haben. Allerdings ist nicht klar, wo das BAG die Grenze ziehen möchte, zumal auch der EuGH insoweit keine Grenzlinie vorgegeben hat. Ist eine weitere Befristung im 8., 9., 10., 11. oder erst im 12. Jahr rechtsmissbräuchlich? Welche Rolle spielt es, ob in dieser Zeit 5, 10 oder 15 oder vielleicht auch nur 2 befristete Verträge nacheinander abgeschlossen wurden?

Arbeitgeber sind in Zukunft jedenfalls gut beraten, wenn sie Kettenbefristungen sicherheitshalber begrenzen. In Form eines Ampelsystems sollte hier der fünften Befristung in Folge die gelbe Ampel und ab der spätestens zehnten Befristung in Folge die rote Ampel leuchten, mit der Folge, dass dann mit dem gleichen Arbeitnehmer kein befristeter Folgearbeitsvertrag mehr abgeschlossen werden darf.

Bei der Gesamtdauer der Befristung sollte bei nacheinander abgeschlossenen befristeten Verträgen sicherheitshalber bei acht Jahren, spätestens aber bei zehn Jahren die Grenze gezogen werden.

Letztlich begründen lassen sich diese Begrenzungsvorschläge lediglich mit der Aussage des BAG, dass bei einer Gesamtdauer von elf Jahren und einer Anzahl von 13 Befristungen ein Rechtsmissbrauch wahrscheinlich erscheint. Diese Grenzen lassen sich aber weder dem Gesetz noch der Rechtsprechung des EuGH noch allgemeinen bzw. verallgemeinerungsfähigen Kriterien entnehmen.

Ich persönlich halte die Entscheidung auch in sich für widersprüchlich: Zum einen ist ausdrücklich die Zulässigkeit von Befristungen und auch von Kettenbefristungen bestätigt worden. Zum anderen sind BAG und EuGH darin einig, dass auch bei absehbaren sich immer wiederholenden Vertretungsnotwendigkeiten keine entsprechende Personalreserve unbefristet eingestellt werden muss. Unabhängig von der Vorhersehbarkeit des Vertretungsfalles kann in jedem Fall neu über einen befristeten Arbeitsvertrag entschieden werden. Woraus soll sich hier letztlich der Missbrauchsvorwurf ergeben?

Im Ergebnis wird die besprochene Entscheidung nur dazu führen, dass zwar weiterhin befristete Verträge abgeschlossen werden, dann aber mit nicht immer den gleichen Arbeitnehmern, sondern neu eingestellten Beschäftigten. Ob dies für die betroffenen Arbeitnehmer etwas zum Positiven verändert, ist mehr als fraglich. In Kenntnis der jetzigen Rechtsprechung wird das beklagte Land und wird jeder Arbeitgeber dazu übergehen, befristet Beschäftigte früher als bisher durch neue befristet Beschäftigte zu ersetzen. Der damit verbundene Einarbeitungsaufwand wird angesichts der Rechtssicherheit zu verschmerzen sein. Die hier zutage tretende Rechtsunsicherheit für alle Beteiligten und die Inkonsequenz der BAG-Entscheidung eher nicht.

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