BAG, Beschluss vom 18. Oktober 2011, 1 AZR 25/10

Im vorliegenden Fall war der Arbeitgeber tarifgebunden und hatte einen Betriebsrat. Als der Arbeitgeber einen Bewerber eingestellt hatte, der nicht Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft war, wollte er diesen nicht in das tarifliche Vergütungssystem eingruppieren, sondern unabhängig von einer solchen Eingruppierung im Rahmen einer frei getroffenen Vereinbarung vergüten.

Hiergegen hatte sich der Betriebsrat gewandt. Der Betriebsrat war der Auffassung, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, den neuen Mitarbeiter in die tarifliche Vergütungsordnung einzugruppieren und das in § 99 Abs. 1 BetrVG vorgesehene Mitbestimmungsverfahren des Betriebsrats bei einer solchen Eingruppierung einzuhalten.

Das BAG hat dem Betriebsrat Recht gegeben. Bisher war diese Frage noch nicht höchstrichterlich entschieden. Die Entscheidung begegnet letztlich auch Bedenken, ist aber in der Praxis zu beachten.

In dem entscheidenden Fall hatte eine bundesweit im Einzelhandel tätige Arbeitgeberin, die an die jeweils gültigen Tarifverträge im Einzelhandel gebunden ist, darunter auch an den Gehaltstarifvertrag, neu eingestellte Arbeitnehmer nicht mehr eingruppiert. Vielmehr wurden Arbeitsentgelte nach individuellen Kriterien frei verhandelt. Der Betriebsrat war der Auffassung, dass neu einzustellende Arbeitnehmer – wie dies zuvor geschehen war – in die Gehaltsgruppen des Gehaltstarifvertrages einzugruppieren seien. Nachdem Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht den Antrag abgewiesen haben, hat das BAG nun dem Betriebsrat Recht gegeben.

Basis für die Mitbestimmung des Betriebsrats und für die Eingruppierung ist der § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG. Danach sei der Arbeitgeber gegenüber dem Betriebsrat verpflichtet, alle Mitarbeiter in das vorhandene tarifliche Eingruppierungssystem einzugruppieren und die Mitwirkungsrechte des Betriebsrats gemäß § 99 BetrVG zu beachten.

Bisher hat das Bundesarbeitsgericht hier eine differenzierte Auffassung vertreten. Eine Eingruppierungspflicht sei, so das BAG in seiner früheren Rechtsprechung, für diejenigen Mitarbeiter zwingend, die Mitglied in der Gewerkschaft sind, für die also der Tarifvertrag gilt. Bei Nichtgewerkschaftsmitgliedern, bei denen keine Tarifbindung und tarifliche Vergütung eingreife, müsse aber eine Eingruppierung nicht erfolgen. Von dieser bisherigen Rechtsprechung ist das BAG mit der vorliegenden Entscheidung nunmehr abgerückt.

Soweit ein Betriebsrat bestehe, führe dies zur Verpflichtung des Arbeitgebers, das tarifliche Entlohnungssystem auch gegenüber nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern anzuwenden. Dies führe jedoch (nur) zu der Verpflichtung, neu eingestellte Arbeitnehmer einzugruppieren. Hieraus folge kein Anspruch der nichttarifgebundenen Arbeitnehmer auf Vergütung nach dem Tarif. Anspruch auf den Tariflohn hätten nur diejenigen Mitarbeiter, die Mitglied in der tarifschließenden Gewerkschaft seien. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats erstrecke sich nicht auf die Entgelthöhe, sondern umfasse lediglich die Einrichtung von Entgeltgruppen nach abstrakten Kriterien sowie die Festsetzung der Wertunterschiede und anderer Bezugsgrößen gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG. Eine Mitbestimmung des Betriebsrates betreffe daher nur entsprechende abstrakte Entgeltgrundsätze und nicht die Entgelthöhe.

In der Praxis dürfte es einem Arbeitgeber nach dieser neuen Entscheidung aber nunmehr schwer fallen, für Arbeitnehmer, die nicht der Gewerkschaft angehören, andere, insbesondere ungünstigere Vergütungsregelungen festzusetzen, als sie für Tarifmitarbeiter gelten.

Anmerkung:

Die Entscheidung des BAG ist sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung abzulehnen.

Soweit sich das BAG auf Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz beruft, ergibt sich aus diesem Grundrecht aus Sicht des Verfassers genau das Gegenteil dessen, was das BAG herausgelesen hat: Artikel 9 Absatz 3 schützt die sog. Koalitionsfreiheit auch von Arbeitnehmern: Kein Arbeitnehmer kann danach gezwungen werden, Mitglied einer Gewerkschaft zu sein (sog. negative Koalitionsfreiheit). Das BAG ist nun der Auffassung, die bisherige, jetzt aufgegebene Rechtsauffassung verletze nicht gewerkschaftlich gebundene Arbeitnehmer in ihrer durch Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz geschützten negativen Koalitionsfreiheit:

Bisher sei, so das BAG, ein Arbeitnehmer gezwungen gewesen, einer Gewerkschaft beizutreten, um die einseitige Gestaltungsmacht des Arbeitgebers im Bereich der Vergütung auszuschließen.

Hier werden aber die Grundsätze des Artikels 9 und der grundgesetzlich geschützten Koalitionsfreiheit verkannt. Es ist sogar umgekehrt so, dass die jetzt vom BAG getroffene Entscheidung massiv in die Grundrechte des Arbeitnehmers aus Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz eingreift:

Bisher hatte ein Arbeitnehmer die Wahl: Er konnte sich entweder dafür entscheiden, Mitglied einer Gewerkschaft zu werden und kam dann in den Genuss der Tarifbindung: Ein tariflich gebundener Arbeitgeber musste den Arbeitnehmer dann eingruppieren und auf der Mindestbasis des Tarifvertrages vergüten.

Daneben hatte aber der Arbeitnehmer bisher auch die Wahlmöglichkeit, der Gewerkschaft nicht beizutreten und damit eine Tarifbindung zu vermeiden. Er hatte dann die Möglichkeit, sämtliche Vergütungsregelungen mit dem Arbeitgeber individuell auszuhandeln. Dies hatte für nicht tarifgebundene Arbeitnehmer beispielsweise auch den Vorteil, dass tarifliche Zugeständnisse der Gewerkschaften sie nicht betrafen. Damit waren Nicht-Gewerkschafts-mitglieder auch nicht dem teilweise sehr engen Konzept einer Eingruppierung in tarifliche Entgeltgruppen unterworfen. Diese von jedem Arbeitnehmer frei zu treffende Entscheidung, ob er Mitglied einer Gewerkschaft wird, hat ihm bisher auch die Entscheidungsfreiheit eingeräumt, ob er sich der betrieblichen Mitbestimmung des Betriebsrats hinsichtlich einer Eingruppierung in die Tarifgruppen unterwerfen oder sein Gehalt unabhängig von Tarifgruppen mit dem Arbeitgeber selbst aushandeln möchte.

Nunmehr, auf Basis der geschilderten neuen Rechtsprechung, kommt jeder Arbeitnehmer unabhängig von der Frage, ob er Gewerkschaftsmitglied ist oder nicht, in den zweifelhaften Genuss einer Zwangseingruppierung in das tarifliche Vergütungssystem und damit auch in die vom Arbeitgeber dann nicht mehr vermeidbare Mitbestimmung des Betriebsrats hinsichtlich seiner Eingruppierung gemäß § 99 BetrVG. Ihm wird damit die grundgesetzlich geschützte Wahlmöglichkeit Pro- oder Contra-Tarifbindung genommen.

Das BAG unterwirft somit entgegen der negativen Koalitionsfreiheit einen Arbeitnehmer, der sich bewusst gegen eine Gewerkschaftsmitgliedschaft und damit gegen eine Tarifbindung entschieden hat, gerade dieser tariflichen Eingruppierung.

Hier hilft es auch nicht, wenn der Arbeitnehmer durch die Entscheidung keinen Anspruch auf die tarifliche Vergütung erhält. Über die Mitbestimmung des Betriebsrats bei der Eingruppierung und die Verpflichtung des Arbeitgebers, bei der beabsichtigten individuellen Vergütungsregelung sind jedoch die Verteilungsgrundsätze der Vergütungsordnung zu beachten. Diese Vergütungsordnung ist wiederum der Tarifvertrag. Hier stellt sich die Frage, wie aus Sicht des BAG der Arbeitgeber ein Abweichen der individuell vereinbarten Vergütung von der tariflichen Vergütung angesichts dieser engen Schranken noch begründen soll. Mittelbar dürfte der vom BAG verordnende Zwang zur Eingruppierung auch nicht tarifgebundener Arbeitnehmer letztlich dazu führen, dass in vielen Fällen die tarifliche Vergütung vereinbart werden muss.

Die Entscheidung ist daher aus meiner Sicht wegen eines Verstoßes gegen die negative Koalitionsfreiheit in Artikel 9 Grundgesetz angreifbar, da sie gegen Grundrechte verstößt. Ob der beteiligte Arbeitgeber Verfassungsbeschwerde einlegt, ist hier nicht bekannt. Anzuraten wäre es jedoch.

Darüber hinaus stellt sich im Zusammenhang mit der Koalitionsfreiheit noch eine ganz andere Frage: wenn der Arbeitgeber nach diesem Beschluss des BAG in der Praxis kaum eine andere Möglichkeit hat, als auch den nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer einzugruppieren und in der Folge auf Basis des Tarifvertrages zu vergüten, wird sich für viele Arbeitnehmer die Frage stellen, warum sie dann noch Mitglied in der Gewerkschaft sein müssen:

Kommen sie auch ohne Mitgliedschaft und insbesondere ohne Mitgliedsbeitrag in den Genuss einer tarifvertraglichen Eingruppierung, einer Überwachung der Eingruppierung durch den Betriebsrat und in der praktischen Folge in der Regel zur tariflichen Vergütung, wird die Mitgliedschaft der tarifschließenden Gewerkschaft schnell überflüssig, die Mitgliedsbeiträge könnten insoweit eingespart werden. Es ist also fraglich, ob diese vordergründig zu Gunsten des Betriebsrats ergangene Entscheidung im Ergebnis im Interesse der tarifschließenden Gewerkschaften liegt.

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