EuGH, Urteil vom 29. November 2017, Az: C-2014/16

Der Europäische Gerichtshof hat mit dem vorliegenden Urteil die Risiken für Unternehmer, die Freiberufler o.ä. beschäftigen, weiter erheblich erhöht.

Bekanntlich sind einige der Personen, die vermeintlich als freie Mitarbeiter, freie Handelsvertreter, Franchisenehmer o.ä. tätig sind, bei genauer juristischer Analyse nicht selbstständig tätig, sondern Arbeitnehmer. Häufig werden solche freie Mitarbeiterverhältnisse über Jahre hinweg zur beidseitigen Zufriedenheit gelebt. Probleme ergeben sich aber häufig dann, wenn der Auftraggeber sich entscheidet, die Zusammenarbeit zu beenden. Dies ist der Zeitpunkt, zu denen dann die Interessen auseinanderlaufen und der vermeintlich Selbstständige prüfen lässt, ob er nicht möglicherweise Arbeitnehmer war. Bestätigt die arbeitsrechtliche Überprüfung diese Annahme, hat dies für den Arbeitgeber weitreichende Folgen:

Zum einen können sich strafrechtliche Ermittlungen anschließen, da Sozialversicherungsbeiträge und Steuern nicht abgeführt worden sind. Zum anderen muss der Arbeitgeber sämtliche Sozialversicherungsbeiträge aus unverjährter Zeit (vier Jahre) abführen, und zwar Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteile. Eine Erstattung der Arbeitnehmeranteile durch den Arbeitnehmer ist weitgehend ausgeschlossen und kommt in der Praxis nur äußerst selten vor. Hinzu kommt die Pflicht des Arbeitgebers, sämtliche Steuern abzuführen. Hier besteht gegenüber dem Arbeitnehmer teilweise ein Erstattungsanspruch, dessen Durchsetzbarkeit aber häufig fraglich ist. Weiter besteht das Risiko, dass für unverjährte Zeiten Ansprüche auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nachzuzahlen sind.

Auch hinsichtlich des Urlaubsanspruches gab es bereits bisher Risiken für den Arbeitgeber:

Soweit nach dem Bundesurlaubsgesetz ein Urlaubsanspruch für das laufende Jahr noch bestand oder im Übertragungszeitraum bis zum 31. März des Folgejahres geltend gemacht werden konnte, musste der Arbeitgeber diesen gewähren oder abgelten.

Insoweit hat sich durch die neue Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs eine gravierende Änderung ergeben:

Danach sollen nämlich die Fristen des Deutschen Bundesurlaubsgesetzes, die den Verfall von Urlaubsansprüchen regeln, bei Scheinselbstständigen nicht gelten. Urlaubsansprüche aus den zurückliegenden Jahren können daher ohne zeitliche Einschränkung geltend gemacht werden.

Im Einzelnen:

Der entschiedene Fall spielt in England. Dort war ein Mann als „Selbstständiger“ über 13 Jahre hinweg immer wieder von einem Unternehmen auf Provisionsbasis beschäftigt worden. Nach seinem Ausscheiden kam es zu Meinungsverschiedenheiten. Der Beschäftigte hat dann eine umfassende Zahlungsklage im Zusammenhang mit den Urlaubsansprüchen der gesamten dreizehnjährigen Beschäftigungszeit geltend gemacht. Soweit er tatsächlich (als Selbstständiger unbezahlt) Urlaub gemacht hat, hat er eine Nachzahlung der Entgeltfortzahlung geltend gemacht. Soweit er weniger als den nach EU-Recht geschilderten vierwöchigen Jahresurlaub genommen hat, hat er Schadensersatz wegen nicht gewährten Urlaubs verlangt.

Der Europäische Gerichtshof hat ihm Recht gegeben. Im Ergebnis musste der Arbeitgeber dem Scheinselbstständigen = Arbeitnehmer das Entgelt für (13 Jahre x vier Wochen = 52 Wochen) ein Jahr nachzahlen.

Der EuGH hat insoweit grundsätzlich entschieden, dass – soweit noch nachvollziehbar – Scheinselbstständige ja Arbeitnehmer sind und als solche einen Urlaubsanspruch haben.

Dieser Urlaubsanspruch verfalle auch nicht, da der Arbeitgeber sich geweigert habe, den Beschäftigten als Arbeitnehmer anzuerkennen und ihm daher auch kein Urlaub gewährt hat. Soweit Urlaub tatsächlich genommen wurde hat sich der Arbeitgeber geweigert, das Entgelt fortzuzahlen.

In der Einordnung des Beschäftigten als Selbstständiger und in der Nichtgewährung eines entgeltlichen Urlaubsanspruches sieht der EuGH ein vorwerfbares Verhalten dass es rechtfertige, den Urlaubsanspruch auch für 13 Jahre rückwirkend zu gewähren.

Vorliegend hätte es nahe gelegen, zumindest den fünfzehnmonatigen Übertragungszeitraum für langfristig erkrankte Arbeitnehmer zugrunde zu legen und insoweit den Urlaubsanspruch zu begrenzen. Dies hat der EuGH abgelehnt. Bei Langzeiterkrankten hätte der Arbeitgeber das Problem, dass er bei Kumulation von längeren Urlaubsansprüchen letztlich seinen Betrieb nicht mehr ausreichend planen könne. Die langfristige Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers habe er auch nicht zu vertreten. Daher sei es angemessen, hier nach Ende des Urlaubsjahres einen fünfzehnmonatigen Übertragungszeitraum vorzusehen. Der vorliegende Fall sei aber grundlegend anders zu beurteilen. Der Arbeitgeber habe nun selbst die Inanspruchnahme von entgeltlichem Urlaub verhindert. Es sei dem Arbeitnehmer auch nicht zuzumuten, in Urlaub zu gehen ohne zu wissen, dass dieser vom Arbeitgeber auch bezahlt werde. Schließlich habe der Arbeitnehmer ja auch über den hier streitigen Streitraum von 13 Jahren zur Verfügung gestanden und nicht, wie bei Arbeitsunfähigkeit, gefehlt. Der Arbeitgeber habe den Vorteil ausnutzen können, durchgehend mit dem Arbeitnehmer zu arbeiten und zu planen. Ein Arbeitgeber, der die Inanspruchnahme von bezahltem Jahresurlaub über viele Jahre hinweg verhindere, sei insoweit nicht schutzwürdig.

Der EuGH hat betont, dass diese Rechtsprechung sowohl für Personen gilt, deren Arbeitnehmereigenschaft von vorneherein anerkannt ist, als auch für Scheinselbstständige, bei denen die Parteien zunächst von einem freien Mitarbeiterverhältnis ausgehen. Grundlage hierfür sei die Arbeitszeit-Richtlinie der EU, aus der sich ein direkter Anspruch auf einen vierwöchigen bezahlen Jahres-Mindesturlaub ergebe.

Wie auch bei der bisherigen Rechtsprechung zum Thema Scheinselbstständigkeit werden der Zumutbarkeit für den Arbeitgeber und die Höhe der Vergütung nicht entscheidungserheblich berücksichtigt. In der Praxis gibt es nämlich viele Fälle, in denen vermeintlich Selbstständige gerade aufgrund ihrer Selbstständigkeit eine höhere (Zeit-) Vergütung erhalten, als Arbeitnehmer. Damit soll gerade ausgeglichen werden, dass Selbstständige selbst für ihre Absicherung gegen Unfall, Krankheit und Alter zuständig sind und das Unternehmen hierfür keinen direkten Beitrag leistet. Auch wenn eine Vergütung wahrscheinlich den Selbstständigen fehlenden bezahlten Urlaubsanspruch ausgleichen soll, muss der Arbeitgeber den nicht ausdrücklich gewährten Urlaub möglicherweise über viele Jahre hinweg nachträglich vergüten oder ersetzen.

Anmerkung:

1. Grundsatz

Aus meiner Sicht bestehen grundlegende Bedenken gegen diese Entscheidung. Urlaub dient in erster Linie nicht der finanziellen Bereicherung, sondern der Erholung. Diese muss zeitnah gewährt werden, um wirksam zu sein. Niemand erholt sich, wenn er für mehrere Jahre rückwirkend finanzielle Leistungen erhält.

Ferner sind hier Verjährungsfristen nicht beachtet worden. In Deutschland verjähren Ansprüche aus Arbeitsverhältnissen in der Regel nach drei Jahren, gerechnet ab dem Jahresende des Jahres, indem der Anspruch entstanden ist. Arbeitsvertragliche Ansprüche aus 2018 würden demnach am 31. Dezember 2021 verjähren und könnten nach 13 Jahren nicht mehr geltend gemacht werden.

Der EuGH übersieht auch, dass die Parteien sich bewusst für eine Selbstständigkeit entschieden haben, so dass nicht der Arbeitgeber später allein die Folgen einer eventuellen Fehleinschätzung tragen muss, zumal der Arbeitnehmer ja auch eine Reihe von Vorteilen aus der Selbstständigkeit gezogen hat, die ihm überwiegend erhalten bleiben. Hier sind beispielsweise die steuerliche Absetzbarkeit von Arbeitszimmer, Fahrzeug etc., die steuerliche Absetzbarkeit von Geschäftsessen und Büroeinrichtung, die Möglichkeit ohne Zustimmung des Vertragspartners weitere Tätigkeiten auch für andere Auftraggeber auszuführen etc. zu nennen.

2. Auswirkungen auf Deutschland

a) Wird zukünftig eine Scheinselbstständigkeit festgestellt, hat der Arbeitnehmer Anspruch darauf so gestellt zu werden, als hätte er während der gesamten Beschäftigungszeit Anspruch auf bezahlten Urlaub gehabt. Tatsächlich in Anspruch genommener Urlaub ist nachträglich zu vergüten, nicht in Anspruch genommener Urlaub ist finanziell abzugelten, was auf das Gleiche hinausläuft. Allerdings ist ein vierwöchiger Urlaubsanspruch je Kalenderjahr zugrunde zu legen. Es kommt nicht darauf an, ob der Urlaub beantragt wurde.

b)Bestand zwischen den Parteien bekanntermaßen ein Arbeitsverhältnis und hat der Arbeitgeber sich geweigert, dem Arbeitnehmer Urlaub zu gewähren (beispielsweise aus betrieblichen Gründen) besteht ebenfalls der gleiche Anspruch auf Vergütung bzw. Schadensersatz.

c) Hat der Arbeitnehmer seinen Urlaub jedoch einfach nur verfallen lassen, ohne dass der Arbeitgeber der Inanspruchnahme des Urlaubsanspruches widersprochen hat, gelten die Verfallsregelungen im Deutschen Bundesurlaubsgesetz:

Regelmäßig verfällt der Jahresurlaub am Ende des Kalenderjahres, somit an 31. Dezember eines Jahres. Konnte der Urlaub aus dringenden persönlichen oder betrieblichen Gründen nicht im laufenden Kalenderjahr genommen werden, kann er ausnahmsweise bis zum 31. März des Folgejahres übertragen werden. Konnte der Urlaub im Urlaubsjahr aufgrund einer Langzeiterkrankung nicht genommen werden, die sich auch über den 31. März des Folgejahres hinaus fortsetzt, verlängert sich die Übertragungsfrist um ein Jahr. Sie beträgt damit 15 Monate nach Ende des Urlaubsjahres. Im Jahr 2018 aufgrund einer Dauererkrankung nicht genommener Urlaub kann somit maximal bis zum 31. März 2020 in Anspruch genommen werden. Wird er nicht in Anspruch genommen, verfällt er mit diesem Tag.

Allerdings ist zu der Frage, ob der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer den Urlaub im Urlaubsjahr zuweisen muss oder der Arbeitnehmer einen Urlaubsantrag stellen muss, um einen Verfall auszulösen, bisher noch streitig. Am Europäischen Gerichtshof ist ein Vorlage-Verfahren des Bundesarbeitsgerichts (C-684/16) anhängig. Dort geht es um Urlaubsansprüche, die der Arbeitnehmer im Verlauf des Urlaubsjahrs nicht geltend gemacht hat. Nach seiner Auffassung ist der Urlaub damit aber nicht verfallen, da der Arbeitgeber den Urlaub, um ihn verfallen zu lassen, dem Arbeitnehmer hätte anbieten müssen, was, wie üblich, nicht geschehen ist.

Anders als andere Kommentatoren sehe ich im vorliegenden Urteil kein Indiz dafür, dass der Urlaubsanspruch nur dann verfallen kann, wenn der Arbeitgeber ihn ausdrücklich angeboten, der Arbeitnehmer ihn aber nicht in Anspruch genommen hat.

 

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