Bundesverfassungsgericht, Urteile vom 11. Juli 2017– verschiedene Aktenzeichen (fünf Verfahren, u.a. 1 BvR 1571/15, 1477/16, 1043/16, 2883/15)

Bis zum Jahr 2010 galt in Deutschland der Grundsatz der sog. Tarifeinheit:

Diese besagte, dass in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag abgeschlossen werden konnte, der dann für alle Beschäftigten, gleich welchem Beruf, galt. Diese Tarifeinheit war eine der Grundsäulen für die Verlässlichkeit der Deutschen Wirtschaft, ganz im Gegenteil beispielsweise zu England: Dort galt dieser Grundsatz nicht und es gab in manchen Betrieben eine Vielzahl von Tarifverträgen. Problematisch daran war, dass jeder Tarifvertrag erstreikt werden konnte, so dass sich ein Betrieb möglicherweise mehreren aufeinanderfolgenden Streiks unterschiedlicher Berufsgruppen ausgesetzt sah, die, insbesondere wenn sie Schlüsselfunktionen hatten, über längere Zeit den Betrieb zum Erliegen bringen konnten.

Im Jahre 2010 hat dann das Bundesarbeitsgericht diese Tarifeinheit aufgehoben und erklärt, sie sei nicht verfassungsgemäß.

Die Bundesregierung hatte dann vor zwei Jahren das Tarifeinheitsgesetz vorgelegt, mit dem Ziel, die ursprüngliche Tarifeinheit möglichst weitgehend wiederherzustellen.

Fraglich an diesem Gesetz war von vorneherein, ob es mit dem Grundgesetz und dort insbesondere der Koalitionsfreiheit im Art. 9 vereinbar ist. Es gab daraufhin elf Verfassungsklagen, von denen der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts nunmehr fünf (beispielhaft) entschieden hat.

Dabei haben sich die Richter in Karlsruhe weitgehend hinter das Gesetz gestellt und klargestellt, dass Art. 9 Abs. 3 GG nicht verletzt ist. Insbesondere greife das neue Gesetz die Tarifautonomie in Deutschland nicht an, es schaffe einen fairen Ausgleich der Interessen. Zwischen größeren und kleineren Gewerkschaften.

Das Gesetz sei insbesondere geeignet, den Betriebsfrieden zu sichern, indem es Anreize dafür schaffe, dass verschiedene Gewerkschaften miteinander kooperieren und einheitliche Regelungen in einem Betrieb schaffen. Dies sei auch unter Geltung des neuen Gesetzes (TEG) möglich. Der erklärte Zweck, Machtkämpfe zwischen Gewerkschaften innerhalb eines Betriebes zu verhindern, sei legitim, insbesondere mit Blick auf den Betriebsfrieden.

Das Bundesverfassungsgericht stellt sogar ausdrücklich klar, dass die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie durch die vom Gesetz angestrebte einheitliche Handhabung des Tarifrechts innerhalb der Organisationseinheit „Betrieb“ sichergestellt werden muss. Die in den letzten Jahren zu beobachtende Entwicklung dahingehend, dass kleinere Schlüsselgewerkschaften (Stichworte: Lokführer, Piloten, Stellwerkmitarbeiter) einen Betrieb über längere Zeit praktisch zum Erliegen bringen können, gefährde das Tarifvertragssystem und führe zu einer Schwächung des Flächentarifvertrages.

Es sei zulässig, dass über das sog. Mehrheitsprinzip die isolierte Ausnutzung von Schlüsselpositionen verhindert werden solle. Auch die vom Gesetz vorgeschriebene Art und Weise, wie Mehrheiten im Betrieb festgestellt werden, begegne keinen verfassungsmäßigen Bedenken.

Allerdings hat das Gericht in einem Punkt Bedenken und fordert bis zum 31. Dezember 2018 eine Nachjustierung:

So fehle es an strukturellen Vorkehrungen um die Interessen von Arbeitnehmern zu schützen, die in kleinen Berufsgewerkschaften organisiert sind. Sie seien dann zu schützen, wenn ihr Tarifvertrag durch den Mehrheitstarifvertrag verdrängt werde. Der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts gibt insoweit jedoch nur das Ziel und nicht Möglichkeiten der Umsetzung vor.

Bei dieser Neuregelung muss die Bundesregierung sicherstellen, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen derjenigen Berufsgruppen, deren Tarifvertrag nicht zur Anwendung kommt, ernsthaft und wirksam in ihrem eigenen Tarifvertrag berücksichtigt.

Damit werden zwar dann möglicherweise die Interessen einzelner Berufsgruppen besser abgesichert, als dies bisher der Fall ist. Immerhin müssten ja Gewerkschaften Regelungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer treffen, die nicht ihre Mitglieder sind.

Der Schutz der kleineren Spezialgewerkschaften bleibt jedoch außen vor. Sie können sich nur dem Mehrheitstarifvertrag anschließen und diesen „nachzeichnen“. Verhandlungsmöglichkeiten oder gar die Möglichkeit, zu einem Streik für einen Spartentarifvertrag aufzurufen, haben sie dann nicht mehr.

 

Comments are closed.