BAG, Urteil vom 18. März 2015 – 10 AZR 99/14

Einen solchen Fall hat jetzt das BAG entschieden:

Im November 2011 wurde der Arbeitnehmer mit einer Alkoholvergiftung (4,9 Promille!) in ein Krankenhaus eingeliefert und war in der Folge für zehn Monate arbeitsunfähig erkrankt. Bereits zuvor hatte er zwei stationäre Entzugstherapien durchgeführt, es kam aber trotzdem immer wieder zu Rückfällen. Die Krankenkasse, die innerhalb von sechs Wochen nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit Krankengeld gezahlt hatte, machte aus übergegangenem Recht Entgeltfortzahlungsansprüche gegenüber dem Arbeitgeber geltend. Die Krankenkasse argumentierte, der Arbeitnehmer habe die Arbeitsunfähigkeit nicht schuldhaft herbeigeführt.

Der Arbeitgeber war dagegen der Auffassung, der Arbeitnehmer habe nach zwei Entzugstherapien und verschiedenen Rückfällen die Arbeitsunfähigkeit zu vertreten, da er sich nicht ausreichend um eine Genesung bemüht habe.

Entscheidungsgrundlage war § 3 Abs. 1 Satz 1 des EFZG. Danach schuldet der Arbeitgeber Entgeltfortzahlung nur dann, wenn der Arbeitnehmer die Arbeitsunfähigkeit nicht schuldhaft herbeigeführt hat. Davon ist auszugehen, wenn der Arbeitnehmer in erheblichem Maß gegen das von einem verständigen Menschen in seinem eigenen Interesse zu erwartende Verhalten verstößt.

Das Gericht musste also prüfen, ob der Rückfall, der zur Alkoholvergiftung und zur nachfolgenden Arbeitsunfähigkeit geführt hat, verschuldet war.

Das Arbeitsgericht hat in erster Instanz ein medizinisches Sachverständigengutachten eingeholt, das zum Ergebnis kam, dass nach einer erfolgreich durchgeführten Therapie eine Abstinenzrate von 40-50 % erreicht wird. Mit anderen Worten: Jeder zweite alkoholabhängige Patient wird trotz erfolgreich zu Ende durchgeführter Therapie rückfällig. Bei Rückfällen könne daher ein Verschulden generell weder ganz ausgeschlossen noch grundsätzlich unterstellt werden. Rückfälle würden sich aus verschiedenen Gründen ereignen, die teilweise auch verschuldensunabhängig seien. Es fehle beispielsweise an einem Verschulden des Arbeitnehmers, wenn nach einer langjährigen chronischen Alkoholabhängigkeit ein erheblicher „Suchtdruck“ bestehe.

Im konkreten Falle hat das Gericht daher ein Verschulden des Arbeitnehmers am Rückfall verneint und den Arbeitgeber verurteilt, für sechs Wochen Entgeltfortzahlung zu leisten.

Tipp:
Das vorliegende Urteil setzt zum Teil neue und für den Arbeitgeber wenig erfreuliche Akzente. Bisher war in der Rechtsprechung weitgehend anerkannt, dass Arbeitnehmer, die eine Alkoholtherapie entweder vor deren Ende abbrechen oder ein bis zwei Mal nach durchgeführter Therapie rückfällig werden, grundsätzlich keinen Anspruch mehr auf Entgeltfortzahlung haben und möglicherweise auch darüber hinaus ein krankheitsbedingter Kündigungsgrund bestehe. In solchen Fällen war bisher in der Regel von einem Verschulden ausgegangen worden.

Die vorliegende Entscheidung stellt hier aber auf den Einzelfall ab, der durch ein sozialmedizinisches Gutachten daraufhin überprüft werden müsste, ob der Arbeitnehmer noch in der Lage war, sein Trinkverhalten zu steuern und abstinent zu bleiben. Dies führt nicht nur zu erheblichen Sachverständigenkosten, sondern auch zu zusätzlichen Verfahrensrisiken für den Arbeitgeber.

Letztlich kann die vorliegende Entscheidung für den Arbeitgeber nur bedeuten, dass er so früh wie möglich, beim ersten Auftreten des Verdachts einer Alkoholkrankheit, tätig wird. Je früher der Arbeitgeber einschreitet, therapeutische Maßnahmen fordert, etc., desto eher ist damit zu rechnen, dass der Arbeitnehmer noch therapiefähig ist und seine Steuerungsfähigkeit hinsichtlich des Alkoholgenusses noch besitzt. Bei langjährigem Alkoholabusus geht das BAG zumindest davon aus, dass ein Therapierfolg kaum noch zu erwarten ist und der Arbeitnehmer den Missbrauch i.d.R. nicht mehr verschuldet hat, so dass Entgeltfortzahlung zu leisten ist.

In Fällen wie dem vorliegenden muss der Arbeitgeber daher nicht nur frühzeitig aktiv werden, sondern gegebenenfalls auch rechtzeitig eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus krankheitsbedingten Gründen prüfen. Schließlich muss geprüft werden, ob nicht eine Fortsetzungserkrankung vorliegt, wenn der Arbeitnehmer bereits zuvor alkoholbedingt Entgeltfortzahlungsleistungen erhalten hat. Hier kommt es nicht auf die Symptome, sondern auf die zugrunde liegende Krankheit, nämlich die Alkoholabhängigkeit an, so dass möglicherweise auch bei einem Rückfall von einer Fortsetzungserkrankung und nicht einer neuen Ersterkrankung auszugehen ist.

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