BAG, Urteil vom 09. Juni 2011, 2 AZR 381/10

Das Bundesarbeitsgericht hat mit seiner sogenannten „Emmely-Entscheidung“ die Arbeitswelt teilweise verunsichert. Von interessierten Kreisen war die Entscheidung zu einer Supermarktkassiererin, die Pfandbons unterschlagen und selbst eingelöst hatte, dahingehend ausgelegt worden, eine fristlose Kündigung sei immer nur dann möglich, wenn der Arbeitgeber zuvor eine Abmahnung ausgesprochen hätte. Darüber hinaus wurde teilweise noch gefolgert, dass zumindest bei nicht übermäßig hohem Schaden Arbeitnehmer auch bei Straftaten, die gegen den Arbeitgeber gerichtet sind, nicht gleich beim ersten „Erwischtwerden“ gekündigt werden könnten, sie sozusagen „einen Schuss frei hätten“.

Die „Emmely-Entscheidung“ war schon äußerst umstritten. Zwischenzeitlich lässt das BAG aber erkennen, dass jede Verallgemeinerung, insbesondere in dem oben genannten Sinn, völlig verfehlt ist. Es komme immer auf den Einzelfall und auf eine Interessenabwägung an. Die dabei zu beachtenden Grundregeln hat das BAG in der hier besprochenen Entscheidung wie folgt festgelegt:

Zum Sachverhalt:

Die Arbeitnehmerin war im Rahmen einer Gleitzeitregelung tätig. Die hierzu ergangene Dienstvereinbarung weist explizit darauf hin, dass Verstöße gegen die Zeiterfassungsregelungen, also beispielsweise ein Unterlassen der Zeiterfassung oder jede Manipulation, einen schwerwiegenden Verstoß gegen arbeitsvertragliche Pflichten darstelle und arbeitsrechtliche sowie disziplinarische Maßnahmen nach sich ziehen würde. Hiergegen hat die Arbeitnehmerin mehrfach verstoßen: Nachgewiesen werden konnte, dass sie an mindestens sieben Arbeitstagen im Jahr 2008 jeweils mindestens 13 Minuten, in einem Fall mehr als 20 Minuten Arbeitszeit selbst erfasst hatte, obgleich sie in dieser Zeit überhaupt nicht im Betrieb anwesend war. Der Arbeitgeber kündigte darauf das Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos. Die Arbeitnehmerin berief sich im Prozess unter anderem auf eine Dienstzeit von ca. 17 Jahren sowie bestehende Unterhaltspflichten und vertrat die Auffassung, der Arbeitgeber hätte, da es sich um den ersten festgestellten Verstoß dieser Art handele, zunächst abmahnen müssen, jedenfalls wäre aber eine außerordentliche Kündigung nicht wirksam gewesen. In ihrem speziellen Fall war dies deshalb wichtig, da eine ordentliche Kündigung aufgrund bestehender Regelungen zu Dienstzeiten nicht mehr möglich war.

Das BAG hat aber letztlich dem Arbeitgeber Recht gegeben und dabei auf folgende Gesichtspunkte hingewiesen:

  1. Soweit früher teilweise die Auffassung vertreten wurde, eine Abmahnung sei nur bei leistungsbezogenen Verstößen, nicht aber bei Verstößen im Vertrauensbereich erforderlich, gilt diese Regel jedenfalls nicht mehr (davon musste man auch aufgrund anderer Entscheidungen schon seit einigen Jahren ausgehen).
  2. Grundsätzlich ist bei Verstößen gegen arbeitsvertragliche Pflichten eine Abmahnung erforderlich.
  3. Eine Abmahnung ist jedoch nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit dann entbehrlich, wenn entweder eine Verhaltensänderung in Zukunft durch die Abmahnung nicht zu erwarten ist oder es sich um eine so schwerwiegende Pflichtverletzung handelt, dass deren Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich, also auch aus Sicht des Arbeitnehmers, ausgeschlossen ist.
  4. Eine außerordentliche anstatt eine ordentliche Kündigung ist für den Arbeitgeber dann zulässig, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber mildere Reaktionsmöglichkeiten als die fristlose außerordentliche Kündigung nicht zumutbar sind.
  5. Für den Arbeitnehmer sprechende Aspekte, wie beispielsweise eine lange Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten oder auch sonstige soziale Aspekte stehen einer außerordentlichen fristlosen Kündigung dann nicht entgegen, wenn es sich um ein besonders schwerwiegendes vorsätzliches Fehlverhalten und nicht etwa nur um eine einmalige (entschuldbare?) Pflichtverletzung handelt.

Bei der Ausfüllung dieser allgemeinen Regelungen waren vorliegend für das BAG folgende Gesichtspunkte besonders wichtig:

Zum einen war die von der Arbeitnehmerin zu beachtende Regel eindeutig schriftlich festgelegt, es konnte hier keine Auslegungsprobleme geben und auch die Rechtsfolge (arbeitsrechtliche Konsequenzen) war klargestellt.

Darüber hinaus kommt es in erster Linie nicht auf die strafrechtliche Würdigung des Vorgangs an, sondern auf die Frage, wie schwer der Vertrauensbruch gegenüber dem Arbeitgeber wiegt, der sich aus der Tat ergibt.

Es ist zulässig, dass der Arbeitgeber den Nachweis der geleisteten Arbeitszeit auf den Arbeitnehmer überträgt. Verstößt der Arbeitnehmer wissentlich und vorsätzlich gegen das insoweit in ihn gesetzte Vertrauen und macht er entsprechend falsche Angaben, stellt dies in der Regel einen besonders schweren Vertrauensmissbrauch dar.

Grundsätzlich muss der Arbeitgeber auch bei Vertrauensverstößen zunächst eine Abmahnung aussprechen. Diese Pflicht besteht aber dann nicht mit der Folge, dass sogleich gekündigt werden kann, wenn zum einen eine Verhaltensänderung in Zukunft, nach Erhalt der Abmahnung, nicht zu erwarten ist. Hier kann natürlich jeder Arbeitnehmer sagen, dass er selbstverständlich nach Erhalt einer Abmahnung ein strafbares Verhalten in Zukunft gegenüber dem Arbeitgeber ändern wird. Im vorliegenden Fall konnte sich die Arbeitnehmerin auch darauf berufen, dass bei Verstößen gegen die Gleitzeitvorschrift vom Arbeitgeber vorgesehen war, dass die Arbeitnehmerin dann aus der Gleitzeitregelung herausgenommen würde. Dies hätte die Gefahr von Manipulation zumindest verringert. Insoweit vertritt das BAG aber die Auffassung, dass nicht jede Schutzbehauptung in dieser Richtung akzeptiert wird: Wenn die Rechtswidrigkeit des Verhaltens von vorneherein klar ist und auch offensichtlich ist, dass der Arbeitgeber ein Fehlverhalten (wie beim Arbeitszeitbetrug) nicht akzeptieren wird, kann der Arbeitnehmer sich nicht einfach darauf berufen, er werde nach Erhalt einer Abmahnung sein Verhalten ändern.

Auch in einem zweiten Fall ist eine Abmahnung entbehrlich, und zwar dann, wenn es sich um eine so schwerwiegende Pflichtverletzung handelt, dass deren Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen ist und der Arbeitnehmer dies auch erkennt. Hier hat das Gericht im vorliegenden Fall in jeder Form auf die vom Arbeitgeber schriftlich getroffene klare Regelung und darauf abgestellt, dass die Arbeitnehmerin an mehreren Tagen systematisch hintereinander vorsätzlich falsche Angaben zur Arbeitszeit gemacht hat. Dieses auf Heimlichkeit angelegte, vorsätzliche und systematische Fehlverhalten wiege besonders schwer. Eine Hinnahme durch den Arbeitgeber war unabhängig von einer eventuell bestehenden Wiederholungsgefahr (!) ausgeschlossen und dies war für die Arbeitnehmerin auch erkennbar.

Tipps für die Praxis:

  • Zunächst muss der Arbeitgeber alle Regelungen, die für ihn wichtig sind, klar, eindeutig und möglichst schriftlich fassen und – durch Quittungsunterschrift des Arbeitnehmers – auch nachweisen, dass der Arbeitnehmer Kenntnis von diesen Regelungen hatte.
  • Gleichzeitig, bei Festlegung der Regeln, sollte der Arbeitgeber auch darauf hinweisen, welche Folgen ein Regelverstoß hat, insbesondere sollte sich ein Hinweis finden, dass ein Verstoß auch eine ordentliche oder außerordentliche Kündigung zur Folge haben kann.
  • Der Arbeitgeber sollte nicht bei einem festgestellten, einmaligen Verstoß sofort eine fristlose außerordentliche oder ordentliche Kündigung aussprechen, sondern durch geeignete und datenschutzrechtlich zulässige Maßnahmen zunächst prüfen, ob wirklich nur ein einmaliges Fehlverhalten vorliegt oder ob der Arbeitnehmer systematisch gegen die Pflichten verstößt. Letzteres ist für die Frage besonders wichtig, ob eine Abmahnung bzw. eine ordentliche oder außerordentliche Kündigung ausgesprochen werden darf.
  • Auch im sogenannten Vertrauensbereich – und nicht nur im Leistungsbereich – muss immer geprüft werden, ob nicht auch eine Abmahnung als Ahndung von Vertragsverstößen ausreichend ist.
  • Vor Ausspruch einer Kündigung – und insbesondere auch im Rahmen einer eventuellen notwendigen Betriebsratsanhörung – muss der Arbeitgeber alle für und gegen eine Kündigung sprechenden Aspekte einschließlich sozialer Überlegungen zugunsten des Arbeitnehmers gegeneinander abwägen. Je schwerer, nachhaltiger und auf Heimlichkeit angelegter die Vorwürfe gegenüber dem Arbeitnehmer sind, desto eher lässt sich eine außerordentliche Kündigung auch ohne vorangegangene Abmahnung begründen, vorausgesetzt, der Arbeitnehmer konnte dies alles auch erkennen.

Für die Praxis besonders bedeutsam ist die Erkenntnis aus dem hier besprochenen Urteil, dass auch eine langjährige, möglicherweise unbeanstandete Beschäftigungszeit kein „positives Vertrauenskapital“ schaffen kann, das auch bei einem schwerwiegenden, erstmaligen Fehlverhalten eine Abmahnung zwingend erforderlich mache. Das BAG hat vielmehr klargestellt, dass ein besonders schwerwiegendes, planmäßiges und wiederholtes loyales Fehlverhalten das für die Weiterführung eines jeden Arbeitsverhältnisses notwendige Vertrauen auch bei besonders langen Betriebszugehörigkeiten zerstören kann.

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